Die zeithistorische Forschung hat sich in den letzten Jahren vermehrt der Geschichte der Fürsorge für Kinder und Jugendliche angenommen. Dabei hat sich gezeigt, dass die historische Kinder- und Jugendfürsorge sowie die mit ihr verschränkten Institutionen als wichtige soziale Orte verstanden werden können, wo (unter anderem) Sexualität diskursiv verhandelt wurde. Sie erscheinen als Kristallisationspunkt für den widersprüchlichen Umgang mit kindlicher und jugendlicher Sexualität, indem sie sich einerseits dem Schutz der Kinderrechte, aber andererseits auch der Normierung und Disziplinierung kindlicher und jugendlicher Lebensweisen verpflichtet sahen. Die in das „Fürsorgeregime“ eingebundenen Institutionen der Jugendfürsorge (Jugendämter, Kinder- und Erziehungsheime), Gerichte (Vormundschafts-, Straf- und Verwaltungsgerichte) sowie Einrichtungen eines mediko-pädagogischen Expertentums (u.a. Psychiatrie und Psychologie, Heil-, Sonder- und Sozialpädagogik, Sexualwissenschaften) entfalteten durch die Art ihrer Zusammenarbeit eine spezifische gesellschaftliche Wirkmächtigkeit. Ihre Tätigkeit war dabei durch dominante diskursive Figuren und institutionalisierte Deutungs- und Handlungsroutinen gekennzeichnet. Oftmals wurden in den diskursiven Aushandlungen und in der praktischen Fürsorgearbeit die Abgrenzungen der Begriffe „Sexualität“, „sexuelle Devianz“ und „sexuelle Gewalt“ unscharf und unterlagen situativen Umdeutungsprozessen.
Im Mittelpunkt der Beiträge des Workshops stehen solche auf kindliche bzw. adoleszente Sexualität bezogenen Herstellungsprozesse von Normen und Entscheidungen innerhalb der Institutionen des „Fürsorgeregimes“. So sollen am Beispiel aktueller Forschungen aus der Schweiz und Österreich die unterschiedlichen Logiken herausgearbeitet werden, die in der Auseinandersetzung mit Sexualität von Kindern und Jugendlichen im Bereich der Fürsorge zum Tragen kamen, um das Spannungsfeld zwischen Schutz, Normierung und Gewalt zu diskutieren. Hierbei gilt es auch, die jeweils wirksamen sozialen Differenzlinien wie gender, class, racy/ethnicity, sexualtity/desire in den Blick zu nehmen. Neben einer kritischen Auseinandersetzung mit den zentralen Begriffen „Sexualität“, „sexuelle Devianz“ und „sexuelle Gewalt“ soll auch die Frage im Zentrum stehen, welche Auswirkungen die vielbeschworene sexuelle Liberalisierung der „zweiten Moderne“ hinsichtlich des Rechtes auf Schutz wie auch des Rechtes auf eine (selbstbestimmte) Sexualität hatte. Schliesslich geht es darum, die Perspektiven der betroffenen Kinder und Jugendlichen aufzuzeigen und der Frage nachzugehen, inwieweit sie den institutionellen Deutungen widersprachen und welche Formen von sexual agency sie selbst entwickelten.
Organisiert durch Prof. Dr. Martin Lengwiler (Basel), Dr. Sonja Matter (Basel), Nora Bischoff (FU Berlin)
Fr. 15. September 2017, ganztätig
Departement Geschichte, Hirschgässlein 21, 4051 Basel, Seminarraum 1
Für alle Teilnehmende: bis 31.08.2017 via Anmeldeformular.
Für Doktorierende der Universität Basel, die einen Kreditpunkt erwerben möchten: zusätzlich über MOnA.
9:15-9:30 Uhr: Begrüssung: Martin Lengwiler, Universität Basel
9:30-10.20 Uhr: Ina Friedmann, Universität Innsbruck
Sexuelle Gewalt in den Akten der Heilpädagogischen Abteilung der Wiener Universitäts-Kinderklinik (1930-1970)
10.20-11.10 Uhr: Kevin Heiniger, UEK Administrative Versorgung
Nacherziehung, Sexualität und Psychiatrie. Zur Etablierung psychiatrischen Expertentums im Rahmen von Erziehungsmassnahmen an männlichen Jugendlichen um die Mitte des 20. Jahrhunderts
11.10-11.30 Uhr: Kaffeepause
11.30-12.20 Uhr: Miriam Baumeister, Basel Graduate School of History
Heimbiografien „sexuell devianter“ Jugendlicher aus den beiden Basel nach 1945
12.20-13.30 Uhr: Mittagessen
13.30-14.20 Uhr: Ruth Ammann, UEK Administrative Versorgung
„Willst du so werden wie deine Mutter?“ Sexualisierte Zuschreibungen und Administrative Versorgung im Erleben weiblicher Jugendlicher in den 1960er und 1970er Jahren
14.20-15.10 Uhr: Sonja Matter, Universität Basel
Opfer oder Verführerin? Adoleszente Mädchen in österreichischen Strafprozessen zu Verletzungen des Schutzalters (1950-1980)
15.10-15.30 Uhr: Pause
15.30-16.20 Uhr: Mirjam Janett, Basel Graduate School of History
Haltlos und triebhaft. Behördliche Fremdplatzierungsentscheide unter sexualitätsgeschichtlicher Perspektive (1945 bis 1980)
16.20-17.10 Uhr: Flavia Guerrini, Universität Innsbruck
"...da Gefahr besteht, dass sie jeden moralischen Halt verlieren." Sexuelle Devianz und sexuelle Gewalt in jugendamtsinternen Diskursen der Stadt Innsbruck der 1950er und 1960er Jahre
17.10-17.20 Uhr: Pause
17.20-18.00 Uhr: Schlussdiskussion: Kommentar und Moderation, Michaela Ralser, Universität Innsbruck
martin.lengwiler@unibas.ch